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"Schauen Sie sich das nur an! Das ist doch unglaublich! Was für eine Schlange!" Mit einem heftigen Plumps sauste die Frau in den Fahrsessel. Ihre Augen blitzen gefährlich! "Jeden Morgen, jeden Morgen habe ich mir das angetan. Jahrelang. Ach, was sage ich da, Jahrzehntelang!" schoss mein Gegenüber ihre Wortsalven in den Raum.
"Wenn ich morgens daheim los gefahren bin, was glauben Sie, was spätestens nach dem Ortsschild vor mir war?" Sollte das eine rhetorische Frage sein? "Ganz genau, eine landwirtschaftliche Zugmaschine." Es war eine rhetorische Frage. Gewesen. "Tuckert gemütlich mit zwanzig Stundenkilometern über die Landstraße. Zieht eine ellenlange Autoschlange hinter sich her, denn an Überholen ist nicht zu denken! Selbstverständlich rollen massenweise Autos im Gegenverkehr an. Und wenn sich just mal kurz eine Lücke bildet, eine winzig kleine Chance an dem vierrädrigen Ungetüm vorbeizukommen - na, wo ist die dann?! In einer Kurve! An einer unübersichtlichen Stelle, an der man lieber weiter hinter dem Traktor her schleicht, statt ein riskantes Überholmanöver zu starten. Wieso, frage ich mich, wieso müssen Landwirte ausgerechnet morgens im Berufsverkehr durch die Gegend fahren? Wieso können die nicht ein halbes Stündchen früher oder später fahren?!"
Jetzt musste sie Luft holen. Kurz tief durchatmen. Aber wirklich nur kurz: "Ich weiß es! Ich weiß, warum die just zur Hauptpendlerverkehrszeit fahren: Um uns Autofahrer zu ärgern! Auszubremsen! Im wahrsten Sinne des Wortes! Aus keinem anderen Grund gehen die genau zur gleichen Zeit auf die Straße wie wir! Nur um unseren Adrenalinspiegel am frühen Morgen in die Höhe zu treiben!" Wow, was für eine Energie die Dame hatte. Im Reden...
"Und kaum biegen sie ab, diese landwirtschaftlichen Autobremsen, kaum sind sie aus dem Weg, fährt schon die nächste Schnecke auf vier Rädern vor uns her! Erklären Sie mir einmal, warum Rentner, also Menschen, die nicht mehr im Berufsleben stehen, die morgens ausschlafen, den Tag in aller Ruhe mit einem gediegenen Frühstück beginnen können, warum gerade diese Menschen, die sich alleine schon wegen ihres Alters und oftmals noch hinzukommend aus Mangel an Übung so vollkommen unsicher im Straßenverkehr verhalten und deshalb bewusst langsam fahren, warum um alles in der Welt die sich ihre Arzttermine morgens, wenn alle Berufstätigen zur Arbeit müssen, machen?! Warum?!!"
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Zu meiner Überraschung stieg Vera am Bahnhof in meinen Zug ein. Sie sah gut aus. Ihr Gesichtsausdruck war entspannt und sie lachte mir freudig entgegen als sie mich sah. Nur ihre schwarze Kleidung verriet, dass sie unverändert in Trauer war.
"Hallo, schön dich zu sehen. Wie geht’s dir?" begrüßend nahm sie mich in ihre schlanken Arme und hauchte mir ein Küsschen zu. Was roch sie gut! Betörend angenehm…
"Gut, danke. Ich hoffe, dir auch?" fragte ich lächelnd zurück
"Ja, kann nicht klagen. Ich komme gerade vom Krematorium."
"Vom Krematorium? Oh…" Ich wusste, dass ein plötzlicher Herzinfarkt vor einigen Wochen ihren Mann mitten aus dem Leben gerissen hatte. Beim Tennisspielen. Einfach so. Er war gerade dabei seinen Ball gekonnt aufzuschlagen…und schon war’s aus. Mit ihm. Sein Tod traf Vera hart! Von heute auf morgen stand sie alleine da. Ohne Mann. Ohne Versorger. Ohne Kinder. Sie war ganz alleine. Dank einer ausgesprochen hohen Lebensversicherung war sie alles andere als mittellos. Sie war mit ihren verwitweten achtunddreißig Jahren eine – wie man so schön zu sagen pflegt – gute Partie.
"Ja, ich musste nochmals mit Victor dorthin." Veras Augenaufschlag glich dem eines treuen Hundes.
"Mit Victor? Deinem Mann? Ähm... Deinem verstorbenen Mann, wollte ich sagen. Nochmals ins Krematorium?"
"Ja. Der hat unglaublich gestunken!"
"Wie bitte?! Gestunken?! Ein Verstorbener?!" Ich war entsetzt!
"Victor, besser gesagt, seine Urne habe ich im Wohnzimmer auf unserem Kaminsims stehen. Damit er immer bei mir sein kann."
"Ja??" Eine stinkende Urne überstieg meine fantasiereiche Vorstellungskraft. Was sicher auch gut so war.
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Mein Zug hatte wieder einmal Verspätung. Nicht genug, dass ich heute extrem spät aus dem Büro kam, jetzt wartete ich seit einer geschlagenen dreiviertel Stunde auf meinen Zug. Erst hieß es fünf Minuten Verspätung. Dann zehn. Plötzlich fünfundzwanzig. Und seitdem gab es keine weitere Information. Ich war hungrig und müde und wollte nur noch eines: Nach Hause. Achtzehn Uhr achtundvierzig. Das bedeutete bei einer Fahrtzeit von sechzig Minuten, einer Gehzeit von zweiundzwanzig Minuten, dass ich frühestens um zwanzig Uhr zehn in den Kühlschrank blicken konnte. Wenn der Zug jetzt käme. Und tatsächlich: Er kam. Ganz gemütlich tuckerte er in den Bahnhof. So, als hätte er alle Zeit der Welt. Der Zug. Voll war er selbstverständlich auch. Kein einziger freier Sitzplatz war mehr weit und breit zu sehen…
Neben mir stand ein junger Mann, der einen beachtlich großen, flachen, quadratischen Karton in Händen hielt. Er duftete. Der Karton. Heiß und lecker. Mein Magen knurrte. Laut und deutlich. Hatte ich schon erwähnt, dass meine letzte Mahlzeit über sechs Stunden zurück lag?! Und lediglich aus einem Obstsalat bestanden hatte?! Roch der Karton gut!
Pizza stand unübersehbar darauf. Oh, was gäbe ich jetzt für so ein schmackhaftes Stück Pizza! Belegt mit Schinken, Salami, Pilzen, Zwiebeln, Peperoni und Käse! Jeden einzelnen Belag roch ich aus dem in meine inhalierenden Nasenlöcher aufsteigenden Kartondampf! Und mein Magen brummte erneut. Noch lauter, noch deutlicher. Unüberhörbar!
"Haben Sie Hunger?" Verschmitzte braune Augen lachten mich freundlich an. Ich lächelte zurück, begeistert darüber, dass der junge Mann die Befindlichkeiten meines Magens wahrgenommen hatte: "Das ist nicht zu überhören, nicht wahr? Ich bin heute noch nicht dazu gekommen, etwas Ordentliches zu essen und darüber beklagt sich mein Bauch gerade lautstark." "Mögen Sie ein Stück Pizza?" Meine Augen wollten vor freudiger Überraschung schier aus meinem Gesicht hüpfen! Ein Stück Pizza! Leicht knusprig gebackenen Teigboden mit …oh ja! Ich wollte! Aber das ging doch nicht! Ich konnte doch unmöglich von einem wildfremden Mann ein Stück Pizza annehmen? Oder doch?!
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Wie immer. Saukalt. Dauerregen. Sturmwind. Und mein Zug hatte Verspätung. Erst fünf Minuten. Dann zehn. Und jetzt waren es schon zwanzig. Zwanzig Minuten in eisig nasser windiger Kälte. Ich war bis auf die Knochen ausgefroren und bibberte vor Wut über die Zuverlässigkeit der Unzuverlässigkeit meiner Zuglinie zornig vor mich hin. Der Tag war für mich gelaufen, bevor er überhaupt begonnen hatte! Und meine Laune war weit unter dem Nullpunkt!
Der Zug kam. Fuhr gemütlich vor sich hin kriechend am Bahnsteig ein. Natürlich war er übervoll! Eine Handvoll Fahrgäste stiegen aus, gute fünf Hände voll drängten in das Zuginnere. Quetschten sich durch die dicht gedrängte Menschmasse, ein jeder in der Hoffnung den letzten freien Sitzplatz zu erobern! Ich ignorierte sämtliche sich mir in die Flanken bohrenden Ellenbogen, wich geschickt nicht gerade unbeabsichtigten Fußtritten aus, drehte mich gekonnt unter dem ausgestreckten Arm eines zwei Meter Mannes hindurch und streckte meinen Hintern in den einzig freien Fahrtsitz noch bevor der zwei Meter Mensch auch nur annähernd an Hinsetzen denken konnte. Mit einem breiten Siegerlächeln blitzte ich ihn kurz an und vertiefte mich in mein Handy.
"Es ist kurz vor neun Uhr", sagte die neben mir sitzende Stimme. Sicher redete sie mit sich selbst.
"Sehen Sie, hier", die Stimme streckte mir ihren mit einer großen Uhr geschmückten linken Arm direkt unter die Nase. Mein "Eh…" überhörte sie.
"Sie brauchen nicht ständig auf das Telefon zu gucken. Ich kann Ihnen immer sagen wie spät es gerade ist", die Stimme war freundlich. Und ich genervt! "Ich schaue nicht nach der Uhrzeit, sondern nach Nachrichten!" "Nachrichten?" wiederholte die Stimme ungläubig, "Die kommen doch im Radio und Fernsehen. Dafür brauchen Sie so ein Telefon nicht."
Die Stimme wollte mir ganz sicher einen Bären aufbinden! Nachrichten aus Radio und Fernseher! Wie altmodisch war das denn?
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Auch die Menschen auf einem Bahnsteig zu beobachten, während sie auf ihre Fahrgelegenheit warten, machte mir viel Spaß. Und mit der Zeit merkte ich, dass ich immer wieder die gleichen Menschen zur gleichen Zeit antraf:
Die blasse, dünne fast weißhaarige, die schüchtern Schutz im Schatten eines Betonpfeilers suchend sich mit ihrem Handy verweilte und nur ab und an aufschaute, um sich zu vergewissern, dass der Zug noch nicht gekommen war.
Der dickliche ältere Herr, der, kaum dass er am Bahnsteig angekommen war, entweder seine Jacken- oder Hemdsärmel oder beides bis zu den Ellenbogen hochkrempelte, schwungvoll seinen Rucksack von den Schultern zog, um ihn mit einem für seine Körperfülle außerordentlichen Schwung vor seinen Bauch zu ziehen, den vorderen Reißverschluss zu öffnen und sein ganz offensichtlich letztes Wurstbrot, dessen markanter Duft kurzfristig die Bahnsteigluft erfüllte, heraus zu holen, um es dann laut schmatzend seinem Magen zu zuführen, der sich grundsätzlich mit einem zufriedenen Rülpser bedankte.
Das verliebte Pärchen, dessen Lippen ebenso aneinander geklebt zu sein schienen wie ihre übrigen Körperteile ineinander verschlungen waren! Eine Trennung der Beiden schien auf den ersten Blick unmöglich – wie bewundernswert, dass es ihnen dann doch immer wieder bei der Einfahrt des Zuges gelang.
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