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Die sympathische Stimme hinter meinem Rücken telefonierte. Mit ihrer Mutter. Sie schien noch relativ jung zu sein. Die sympathische Stimme. Ich schätzte sie vom sanften Klang her auf Anfang zwanzig
"Es war sooo anstrengend heute, Mama. Ich bin total fertig“, stöhnte die sympathische Stimme.„Angefangen haben wir mit dem Laufband. Dreißig Minuten lang!"
Laufband? Bei den sonnig warmen Temperaturen? Immerhin hatten wir seit Tagen angenehme zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Grad bei mäßiger Luftfeuchtigkeit. Da läuft es sich doch ganz fantastisch an der frischen Luft. Wieso also Laufband? Ah, wahrscheinlich war die sympathische Stimme Mitglied in einem Sportstudio.
„Natürlich war das anstrengend. Aber schlimmer fand ich die dreißig sit ups hinterher.“
Dreißig sit ups?! Meine von sanften Wellen umgebene Bauchmuskulatur krampfte sich unwillkürlich spontan zusammen und ließ mich einen imaginären massiven Muskelkater erahnen, den ich zum Glück nicht wirklich bekommen konnte.
„Dann ging´s mit diesem Po-Stretching weiter.“
Po-Stretching? Die Mama der freundlichen Stimme fragte sich das offensichtlich auch.
„Du weißt schon, dieses Band mit der Schleife am Ende, in das du deinen Fuß steckst und dann musst es rücklings in Richtung Po ziehen. Das Band.“
Abgesehen davon, dass sich das in meinen Ohren sehr kompliziert anhörte, wollte ich mir gar nicht vorstellen, wie ich die Ferse meines durch ein Band geknebelten Fußes an meinen Hintern ziehen sollte. Automatisch zog ich meine Fußspitzen nach oben und blickte auf meine entspannt in bequemen Gesundheitsschuhen ruhenden rundlichen Füße.
„Danach kamen dann die Brustübungen. An diesem Butterfly, meine ich. Das Gerät, bei dem du deine Hände seitlich in diese Flügelklappen steckst und die du im Wechsel zusammen drückst und auseinander ziehst. Ganze fünfzig Mal musste ich das machen.“
Meine drallen Oberarme schienen unverzüglich auf das Doppelte anzuschwellen! Erschrocken richtete ich mich kerzengerade auf, so dass meine Oberweite beinahe meine Genusskugel überragt hätte. Aber eben nur beinahe.
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Ein schwergewichtiger Herr mittleren Alters war der einzige Fahrgast heute. Mich ausgenommen. Als Schichtarbeiter war ich es gewohnt, nachts allein mit dem Zug nach Hause zu fahren. Besser gesagt, alleine im Zug nach Hause zu fahren. Als einziger Fahrgast, sozusagen.
Der mächtige Herr allerdings sah nicht wie ein Schichtarbeiter aus. Viel zu gut gekleidet war der. Schnieker hellgrauer Anzug, mintfarbenes Hemd, schwarze Lackschuhe. Auf eine Krawatte hatte er verzichtet. Vielleicht hatte er auch eine getragen und hatte sie nur schon ausgezogen und in seiner braunen Ledertasche verstaut? Jedenfalls hatte er die beiden oberen Hemdknöpfe geöffnet. Verständlich bei den tropischen Temperaturen. Eine Klimaanlage hatte unser Zug leider nicht. Aber die Fenster, die konnten wir kippen. Wenigstens etwas. Tat das laue Lüftchen, das zart ins Zuginnere drang, gut!
Er saß zwei Sitzplätze von mir entfernt und ich wurde mehr oder minder genötigt, seinem Handygespräch zu zuhören. Okay, dass ich genötigt wurde, stimmt nicht ganz. Eigentlich freute ich mich über das bisschen Abwechslung beim Fahren. Auch wenn ich nur zuhören durfte.
„Ja, ja, Kopfrechnen ist heutzutage nicht jedermanns Sache!“, lachte der Klotz. „Bevor ich ins Theater ging, musste ich dringend etwas essen. Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr zwischen die Kiemen bekommen.“
Konnte ich mir in Anbetracht der da sitzenden Masse gar nicht vorstellen …
„Ich also in den Nobelitaliener neben dem Theater marschiert und siehe da, ein einziger Tisch war noch frei.“
Da hatte er aber Glück gehabt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn er nichts zu Futtern bekommen hätte. Warum nur musste ich unwillkürlich vor mich hin kichern?!
„Kaum hatte ich bestellt, kommt ein älteres Ehepaar zur Tür rein. Waren ziemlich aufgetakelt. Und sahen aus, als wollten sie auch ins Theater.“
Was die Masse an Mann wohl unter ‚aufgetakelt‘ verstand?
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Gedankenverloren fläzte ich mich in den Fahrsessel. Was der Tag heute wohl noch so an Überraschungen für mich bereit hielt? Ich durfte gespannt sein! Eines jedenfalls war ganz sicher: Ich sollte heute meine fünf Sinne beisammen halten. Mich konzentrieren. Auf das, was ich gerade tat. Und nicht wie sonst routinemäßig meine Arbeiten erledigen und meine Gedanken dabei schweifen lassen. Das könnte nämlich gewaltig in die Hose gehen. Nach dem Start heute früh …
Ich war wie jeden Arbeitstag um kurz nach fünf Uhr morgens aufgestanden und hatte für meinen Mann und mich den Frühstückstisch reichlich gedeckt: Von Obst, Marmelade, Honig, Butter, Käse und Wurstaufschnitt bis hin zu frisch abgekochten Eiern mangelte es an nichts. Mit Liebe bereitete ich meinem Mann einen heißen Cappuccino – ich selbst bevorzugte einen großen Milchkaffee – und schmierte ihm eine Laugenstange mit selbst gekochter Brombeermarmelade. Das Radio lief in moderater Lautstärke und störte unser allmorgendliches verliebtes Geplänkel nicht. Unser gemeinsamer Start in den Tag war uns wichtig, denn schließlich sahen wir uns erst wieder am späten Abend.
Nachdem wir ausgiebig gespeist und geklönt hatten, räumte ich den Frühstückstisch ab, richtete das zweite Frühstück für meinen Mann zum Mitnehmen und packte meine Handtasche für den Tag, während mein Mann online, also mittels unseres Tablets, noch einen kurzen Blick auf die aktuellen Nachrichten, Wetter- und Verkehrslage warf.
Nachdenklich hob er den Kopf und sah mich an: „Telefonieren wird heute schwierig, mein Schatz.“
„Wieso?“, fragte ich, „Hast du viele Termine?“
„Nein. An den Terminen liegt es nicht.“
„Wie? Woran liegt es dann? Wieso wird telefonieren heute schwierig?“ Ich war verwirrt.
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Wie immer. Saukalt. Dauerregen. Sturmwind. Und mein Zug hatte Verspätung. Erst fünf Minuten. Dann zehn. Und jetzt waren es schon zwanzig. Zwanzig Minuten in eisig nasser windiger Kälte. Ich war bis auf die Knochen ausgefroren und bibberte vor Wut über die Zuverlässigkeit der Unzuverlässigkeit meiner Zuglinie zornig vor mich hin. Der Tag war für mich gelaufen, bevor er überhaupt begonnen hatte! Und meine Laune war weit unter dem Nullpunkt!
Der Zug kam. Fuhr gemütlich vor sich hin kriechend am Bahnsteig ein. Natürlich war er übervoll! Eine Handvoll Fahrgäste stiegen aus, gute fünf Hände voll drängten in das Zuginnere. Quetschten sich durch die dicht gedrängte Menschmasse, ein jeder in der Hoffnung den letzten freien Sitzplatz zu erobern! Ich ignorierte sämtliche sich mir in die Flanken bohrenden Ellenbogen, wich geschickt nicht gerade unbeabsichtigten Fußtritten aus, drehte mich gekonnt unter dem ausgestreckten Arm eines zwei Meter Mannes hindurch und streckte meinen Hintern in den einzig freien Fahrtsitz noch bevor der zwei Meter Mensch auch nur annähernd an Hinsetzen denken konnte. Mit einem breiten Siegerlächeln blitzte ich ihn kurz an und vertiefte mich in mein Handy.
"Es ist kurz vor neun Uhr", sagte die neben mir sitzende Stimme. Sicher redete sie mit sich selbst.
"Sehen Sie, hier", die Stimme streckte mir ihren mit einer großen Uhr geschmückten linken Arm direkt unter die Nase. Mein "Eh…" überhörte sie.
"Sie brauchen nicht ständig auf das Telefon zu gucken. Ich kann Ihnen immer sagen wie spät es gerade ist", die Stimme war freundlich. Und ich genervt! "Ich schaue nicht nach der Uhrzeit, sondern nach Nachrichten!" "Nachrichten?" wiederholte die Stimme ungläubig, "Die kommen doch im Radio und Fernsehen. Dafür brauchen Sie so ein Telefon nicht."
Die Stimme wollte mir ganz sicher einen Bären aufbinden! Nachrichten aus Radio und Fernseher! Wie altmodisch war das denn?
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„Wissen Sie“, lachte die ältere Frau, die sich mir gegenüber elegant in ihren Fahrtsitz gleiten ließ, „es gibt schon merkwürdige Menschen.“
Ich nickte freundlich zustimmend: „Da haben Sie Recht.“
„Ich laufe jeden Morgen den gleichen Weg zum Bahnhof und nach der Arbeit am späten Nachmittag wieder nach Hause“, fuhr sie fort.
Also wie ich und viele andere. Ich nickte erneut mit meinem Kopf und wartete auf die Fortsetzung. Ich wollte nicht unhöflich sein. Obwohl ich die Dame gar nicht kannte. Oder hatte ich sie hier im Zug schon einmal gesehen? Schließlich fuhr ich jeden Morgen mit diesem Zug zur Arbeit. Unwillkürlich musterte ich sie: Sie hatte eine ansehnliche Figur, war modisch schick gekleidet, High-Heels an und ein freundliches Gesicht, das von unbändigen schwarzen Locken umrandet wurde. Aber ich hatte sie bislang wirklich nicht bemerkt. Sicher lag es daran, dass unser Zug von der Masse an Schülern, die mit uns einstiegen, nahezu aus allen Nähten gesprengt wurde.
„Auf meinem Weg passiere ich logischerweise auch immer die gleichen Häuser.“
Ich auch.
„Und ein Haus, das ist gute neun Meter lang – ich weiß das genau, weil ich nämlich immer meine Schritte zähle, eine Schrittlänge von gut dreißig Zentimetern habe und dreißig Schritte brauche, bis ich vorbei bin.“
Dreißig-Zentimeter-Schritte. Mit den High-Heels. Respekt. Schritte zählen käme mir persönlich allerdings zu so früher Stunde am Tag nicht in den Kopf …
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"Oh, hallo! Das ist aber eine nette Überraschung, dass du mich heute anrufst!"
Mein Gegenübermitpendler hatte soeben einen Anruf bekommen. Offensichtlich von jemandem, den er sehr mochte.
"Wie es mir geht? Hmm, was soll ich sagen ... hmm ... durchwachsen."
Durchwachsen? Was hieß das denn?
"Du weißt, mein Fünfzigster naht in großen Schritten und bis gestern habe ich mich auch richtig auf meine Feier gefreut! Stellt mir nicht gestern meine Frau die Frage, welches Motto mein Geburtstag haben soll?! Das Motto bin ich, habe ich ihr gesagt, denn es ist schließlich mein Geburtstag. Das wäre ihr schon klar, hatte sie gelacht, dass ich die Hauptperson wäre, aber dennoch würde meine Feier ein Motto brauchen. Das wäre nun mal in heutzutage. Wenn irgendwo gefeiert würde, gäbe es immer ein Motto. Sogar bei After-Work-Partys wäre das nun Trend. After-Work-Partys. Auch so eine neumodische Erfindung. Da treffe ich mich doch lieber mit Freunden nach der Arbeit auf ein oder zwei gemütliche Bierchen und wir plauschen in aller Ruhe miteinander. After-Work-Party. Für mich klingt das eher nach Single-Schaulaufen. Verstehe überhaupt nicht, was meine Frau daran findet. Aber egal. Zurück zu meinem Geburtstag.
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